Kapitel 10 – Schuppenpforte

Frühe Morgendämmerung, fünfzehn Tage nach der Ankunft

Ein erster Goldschimmer lag auf den feuchten Farnwedeln, wo die Suchtrupps der vergangenen Nacht ihr Lager aufgeschlagen hatten. Erik schlief, in eine Decke gewickelt, sein Gesicht von den ersten Sonnenstrahlen gestriffen, die durch das Baumwipfeldach brachen. Mia saß daneben, träufelte aus einer Pipette frisches Wasser auf seine aufgeschlagenen Knie, während Lukas notierte, dass Puls und Atmung nun regelmäßig seien.

Kevin stand am Böschungsrand des Farnschleiers, die Hand mit zusammengefalteter Karte über den Augen, um das grelle Licht abzuwehren. Noch immer hing ein dünner Nebel zwischen den Stämmen, doch er fing bereits das Gold der steigenden Sonne, genauso, wie es nur Minuten zuvor über dem Salamanderstrom geschwebt hatte.

Harald trat an Kevins Seite. Die Müdigkeit der nächtlichen Suchaktion lag schwer in den Knochen, doch ein unterschwelliger Drang hielt ihn wach. „Ich möchte den Hang dort unten noch einmal ansehen“, sagte er leise. „Eriks Rutschspur – wer weiß, ob wir nicht noch etwas übersehen haben.“

Kevin nickte. „Mach schnell. Wir sollten in zwei Stunden zurück im Hauptlager sein.“

Harald nahm seine Stirnlampe trotzdem mit – nicht wegen Dunkelheit, sondern um im Schatten der Böschung jede Vertiefung auszuleuchten. Kevin folgte. Sie informierten Lukas, dass sie maximal hundert Meter entfernt wären.

Eine Entdeckung im Morgenlicht

Die Morgensonne verlieh dem Boden der kleinen Senke ein milchiges Leuchten, doch im Schatten dichter Farne zeigten sich tiefe Schleifspuren – Eriks gestrige Rutschbahn. Harald folgte den Abdrücken, bog einen Wedel zur Seite und entdeckte ein metallisches Flackern: eine quadratische Platte, halb von Moos verdeckt.

Er kniete, wischte die Polsterung beiseite. Die Platte war rostgrau, doch an einer Kante zeigte sich blanker Stahl. Eine matte Edelstahlblende verdeckte ein schmal eingelassenes Tastenfeld; darüber pulsierte eine bernsteinfarbene LED – untrügliches Zeichen, dass die Wartungs­schachtabdeckung elektronisch verriegelt war. „Sieht aus wie eine Wartungsklappe“, murmelte er.

Kevin ging in die Hocke. „Hättest du mich geweckt, wenn du sie letzte Nacht gesehen hättest?“

Harald zuckte mit einem müden Lächeln. „Wahrscheinlich. Aber jetzt ist es hell, wir haben mehr Überblick.“

Harald klappte sein Multitool auf, löste zwei winzige Torx‑Schrauben an der Blende und hebelte sie beiseite. Dahinter kam eine Leiterplatte zum Vorschein. Er zögerte, dann überbrückte zwei blankliegende Testpunkte mit einer aufgebogenen Büroklammer. Die LED sprang von Bernsteingelb auf Grün; ein leises elektromagnetisches Klacken verriet, dass der Riegel gelöst war. Erst jetzt konnten sie die Platte gemeinsam anheben. Kalte, trockene Luft strömte empor. Eine senkrechte Leiter führte hinab in einen schmalen Betonschacht, und unten sah Harald die Reflexion zweier paralleler Metallschienen.

Er stieg drei Sprossen hinunter, leuchtete mit seiner Lampe: Eine schmales Wartungs­podest, knapp einen Meter über Bodenhöhe, dann die Schienen – kaum handbreit auseinander, als würden sie ein kleines Transport­wägelchen führen. Alles war bemerkenswert sauber, fast frisch gewartet.

Kevin blieb am Rand. „Nicht weiter. Wir haben kein Seil, keine zweite Lampe, und oben brauchen sie uns.“

Harald nickte, trat den Rückweg an, zog die Platte wieder zu und legte das Moos sorgfältig darüber.

„Was immer das ist – Servicestollen, Schienentransport – wir halten den Mund, bis wir einen Plan haben“, sagte Kevin.

Harald strich mit dem Daumen über einen winzigen Rostspan, den er von der Klappe gekratzt hatte; er ließ ihn in der Jackentasche verschwinden. „Abgemacht. Heute zählt die Gruppe.“

Rückweg und erste Sonnenstrahlen

Als sie das Lager erreichten, stand die Sonne knapp über den Baumwipfeln. Erik war wach und kaute langsam auf einem Müsliriegel. Die Fuchsbänder und Sturmvögel mieden einander noch, doch keiner hatte Kraft für offene Streitigkeiten.

Kevin erklärte knapp: „Böschung ist sicher, aber absturzgefährlich. Wir markieren sie später. Für jetzt: zurück zum Basislager, Frühstück, Schlaf nachholen.“ Niemand widersprach.

Harald warf einen letzten Blick zum Nebel, der sich golden über dem Farnschleier kräuselte. Nicht mehr Nacht, noch nicht Tag – genau die Stunde, in der Geheimnisse am besten ruhen.