Kapitel 3 – Bärlappleuchten
Späte Abenddämmerung, vier Tage nach der Ankunft
Der Tag war in einen dunkellilanen Mantel aus abklingender Wärme gehüllt, als das Kanu – nun schon vertraut wie ein sechstes Crewmitglied – lautlos den südwestlichen Ausläufer des Inselmeers durchschnitt. Doch diesmal paddelten die Kinder nicht mit den breiten Blättern flussauf oder -ab, sondern quer über die spiegelnde Fläche, deren Wasser wie schwarzes Glas jede Sternspitze reflektierte. Im Kielwasser glimmten winzige Kaskaden von Mikroalgen auf, angeregt durch das Plätschern der Paddelblätter, ein chemisches Aufleuchten, das Lukas als lokale Biolumineszenz von Cyanobakterien in sein Notizbuch kratzte.
Bald tauchte vor ihnen eine dunkle, flache Insel auf – nicht größer als drei Fußballfelder, aber dicht bewachsen mit einem vegetativen Teppich, der das schwache Mondlicht aufsog wie Samt. Es handelte sich um das Eiland, das sie bei ihrem ersten Rundblick von der Kapitänsbrücke als dunkel schimmernden Fleck vermerkt hatten. Jetzt wollten sie herausfinden, was dort wuchs und warum selbst tagsüber kein Licht über das Ensemble flackerte.
Kevin steuerte das Kanu in eine seichte Bucht, wo breite Wasserhahnenfußblätter ein natürliches Polster gegen das Ufer bildeten. Das dort sprießende Schilf war noch jung, spätfrühlingsgrün und so biegsam, dass es unter dem Bootsbug kaum wahrnehmbar nachgab. Das Boot glitt lautlos auf weichen Schlamm. Kevin setzte als Erster den Fuß an Land, steckte eine Leuchtfackel aus kaltweißem Sticklicht in den Boden und bedeutete den anderen, die Rucksäcke zu schultern.
»Alles raus, aber leise«, flüsterte er. »Wenn die Insel so empfindlich ist, wie sie aussieht, wollen wir keinen halben Wald niedertrampeln.«
Erik sprang von Bord, ein Bündel frisch gesammelter Haselnussruten unterm Arm. Harald folgte, zog ein kleines Messgerät aus der Seitentasche – ein digitaler Luxmeter, geliehen aus dem Verwaltungsgebäude Westende. Er kannte die Werte für gewöhnliche Nachtlandschaften: 0,1 Lux bei Neumond, 0,3 Lux in klarer Viertelmondnacht. Hier jedoch schwankte das Gerät zwischen 0,02 und 0,04. Dichter Schatten plus etwas, das Licht absorbiert? notierte er im Kopf.
Mia band ein Stück reflektierendes Tape an den Schilfsaum, damit man das Boot bei Nachtfrost finden konnte, und setzte dann ihren Skizzenblock aufs Knie. Alle fünf trugen Kopflampen, jedoch mit rotem Filter, um die Dunkeladaptation der Augen nicht zu zerstören.
Der erste Leuchtteppich
Kaum hatten sie ein paar Meter in den Inselkörper hineingefunden, erloschen die Geräusche des Ufers, als hätte jemand eine unsichtbare Akustikbarriere um sie gelegt. Der Boden war weich, fast schwammig. Zwischen den humosen Polstern ragten Schachtelhalmwedel und weiche Farnrosetten – möglicherweise Diphasiastrum alpinum, vermutete Lukas.
»Leuchtet es nur mir so grün?« fragte Erik plötzlich und schwenkte seine Kopflampe aus. Die anderen taten es ihm gleich, und augenblicklich erwachte der Boden zum Leben.
Millionen winziger Sporenkörper auf den Farnwedeln begannen in einem ultrafeinen Cyan zu glimmen, ein Meer aus pulsierendem Licht, das mit jedem Luftstoß Helligkeitswellen aussandte. Es war, als breite sich ein unsichtbarer Herzschlag über den Waldboden. Die Kinder standen still – niemand wagte, einen Schritt zu tun.
Mia schlug die Seiten ihres Skizzenblocks um, doch das schwache Leuchten war kaum abzuzeichnen. Stattdessen ließ sie das Papier offen, damit künftige Sporen vielleicht ein Negativ zurückließen.
Kevin pfiff tonlos. »Das ist –«
» – reinste Fluoreszenz«, vollendete Lukas den Satz. »Wahrscheinlich Flavine in den Sporenmembranen. Bei minimaler Anregung emittieren sie Licht.«
Harald nahm ein Reagenzgläschen heraus, streifte mit einem Spatel hauchfein Sporen ab. Später analysieren. Doch bevor er den Spatel in das Röhrchen schob, bemerkte er seitlich eine schwache Stroboskopsequenz: ein kaltes, bläuliches Flackern, zu geometrisch, um natürlichen Ursprungs zu sein. Zwischen zwei Grashalmen glitzerte ein 5‑Millimeter‑LED, eingelassen in eine winzige Metallfolie. Er wollte gerade genauer hinsehen, als Erik ihn am Ärmel zog.
»Schau mal, da vorn!« Erik zeigte auf einen niedrigen Felsrücken. Vom spitzen Gesteinsgrat schossen Strahlenbündel fluoreszierender Sporen in die Luft, als würden sie durch eine unsichtbare Thermik getragen.
Harald schob das Röhrchen weg, ließ das LED-Flackern unbeachtet liegen. Später, dachte er. Kein Grund, die Stimmung zu verderben.
Lager im Leuchtwald
Die Gruppe richtete ihr Biwak in einer flachen Senke ein, wo das dichte Sporenleuchten eine natürliche Lichtquelle bot. Kevin schlug ein Tarp zwischen zwei Erlen auf, so niedrig, dass es kaum über den Farnkronen schwebte. Sie verzichteten absichtlich auf offenes Feuer; stattdessen brannte ein kleines Alkoholkocherchen, dessen blaues Flämmchen im Meer der Sporen kaum auffiel.
Mia arrangierte aus Farnwedeln einen runden Sitzkreis und nannte das Ensemble scherzhaft »Leuchtlounge«. Während Kevin gefriergetrocknete Suppe erwärmte und Lukas Datenloggertemperaturen nahm, zog Harald sich ein paar Meter zurück, suchte den Steinrücken erneut auf.
Zwischen dem jetzt grell leuchtenden Sporenflug entdeckte er das LED-Licht wieder. Im Rhythmus von exakt sechs Sekunden blinkte es zweimal kurz, dann einmal lang. Harald überlegte, ob das zufällig sein konnte. Morse-Code? D‑I‑E? Oder war das nur sein Kopf, der Muster suchte?
Er schob das Moos zur Seite. Darunter lag ein dünner Glasfaserstrang, kaum dicker als ein Haar, der sich in Richtung Inselinneres wand. Er tastete, spürte eine winzige Vibration. Datenleitung? Sensorfeed? Eine Erinnerung blitzte auf: das rote Leuchten auf der Kapitänsbrücke, das Chipsymbol unter dem Steinhaufen am Salamanderstrom.
Er wollte den Strang folgen, doch Kevin rief: »Essen!«
Harald trat den Moosfilz wieder fest, verbarg die Lichtquelle. Später, beschloss er zum zweiten Mal.
Gespräche im Phosphorglühen
Beim Essen herrschte beinahe andächtige Stille, unterbrochen von sporadischem Insektengesang. Lukas umriss mit einem Laserpointer auf seinem Kartenausschnitt die Hufeisenform der Insel. »Vielleicht knapp vierhundert Meter Nord‑Süd, zweihundert Ost‑West. Wir könnten sie also morgen früh komplett umrunden.«
»Ich könnte jetzt schon loslaufen«, meinte Erik, der vor Energie vibrierte. Doch Kevin legte eine Hand auf seine Schulter. »Heute Nacht bleibt keiner allein unterwegs. Zu leicht stolperst du in den See. Morgen, bei Tageslicht.«
Mia zeigte Harald ihre bisherige Skizzenfolge: vom first light am Ufer bis zu den fluoreszierenden Sporen ringsherum. »Eigentlich sollte man hier einen nächtlichen Lehrpfad anlegen – so, wie manche Botanischen Gärten Glühwürmchen-Touren anbieten.«
»Die Frage ist nur, ob die Sporen das aushalten,« gab Lukas zu bedenken. »Fluoreszenz geht oft mit phototoxischen Reaktionen einher; zu viel Fußverkehr zerstört die Symbiose.«
Kevin streckte die Beine aus, runzelte die Stirn. »Deshalb schreibt niemand von uns einen Reiseführer. Wir beobachten, wir dokumentieren, aber wir machen nichts kaputt.«
Mia nickte zustimmend. Erik blies einen Farnwedel wie ein Mundharmonikablatt an – es gab ein dumpfes, aber durchaus hörbares Brummen von sich. »Musikinstrument!«, rief er begeistert und blies weiter.
Ein sachter Windstoß strich über die Lichtteppiche; Sporenwölkchen glühten höher und verebbten. Die Kinder sahen schweigend zu. So verging fast eine Stunde, in der ihre Gespräche zwischen flüsterndem Staunen und stiller Reflexion pendelten.
Eine fast schlaflose Nacht
Noch vor Mitternacht legte sich Nebel über die Insel. Kondensat auf jedem Farnblatt verstärkte das Leuchten, als wäre jedes Sporenhäutchen ein winziger Lichtleiter. Obwohl die Temperatur nicht unter zehn Grad sank, fühlte sich die Luft klamm an. Die Kopflampen blieben aus: Das natürliche Licht genügte, um grobe Konturen zu erkennen.
Harald lag in seinem Schlafsack, halb aufgerichtet, das Luxmeter auf die Brust gelegt. Die Zahlen pendelten jetzt zwischen 0,05 und 0,07 Lux – ein leichter Anstieg. Mehr Feuchtigkeit, intensiveres Leuchten? Er notierte die Hypothese. Dann wanderte sein Blick zu dem Fleck, wo er das LED-Pulsieren gesehen hatte. Keine Bewegung, das Moos war still.
Er dachte an die Datenleitung, an die kleine Temperaturdiode unter dem Steinhaufen und daran, wie Lukas tagsüber im Labor erzählt hatte, dass Gigaplex in bestimmten Arealen ein unsichtbares Sensornetz betreibe. Vielleicht kartieren sie das Wachstum der Farne, schloss Harald, oder sie messen Biolumineszenz, oder sie haben ein ganz anderes Ziel.
Er hörte Kevins Atem, tief und gleichmäßig, das leise Rascheln von Mias Skizzenblättern, wenn sie sich umdrehte, und Eriks gelegentliches Murmeln. Später, sagte er sich ein drittes Mal. Alles zu seiner Zeit.
Morgengrauen – und ein Name entsteht
Die erste Trennung zwischen Nacht und Tag erfolgte um vier Uhr. Ein dünner, schwefelfarbener Streifen schob sich am Osthorizont über die Baumlinie, während das Sporenleuchten langsam abebbte. Es war, als schalte jemand einen Dimmer runter. Die Farbe wechselte von Neon-Cyan zu stumpfem Grasgrün, dann zu gewöhnlichem Moosgrau, als lägen nun nur noch matte Stäubchen auf den Wedeln.
Kevin reckte sich, gähnte. »Ich habe das Gefühl, ich war auf einem anderen Planeten.« Darauf wusste niemand eine passende Antwort.
Erst als sie ihre Rucksäcke packten, begann Erik, munter vor sich hinzupfeifen. »Ist doch klar, wie wir die Insel nennen, oder? Bärlappleuchten.« Er sah die anderen erwartungsvoll an.
Mia hielt inne, kaute auf einem Graphitstummel. »Technisch gesehen sind das keine klassischen Bärlappgewächse, eher echte Farne«, korrigierte sie leise, aber ihr Blick war milde. »Doch als Name funktioniert es trotzdem.«
Lukas schrieb: Inselname Bärlappleuchten – provisorisch, bis weitere Taxonomiestudien abgeschlossen. Doch das war nur ein akademischer Zusatz. Im kollektiven Bewusstsein der fünf Freunde hatte sich der Name bereits unauslöschlich eingebrannt.
Harald schwieg. Der Begriff gefiel ihm, auch wenn er das LED-Blitzen lieber als »Signallicht« klassifiziert hätte, um die Technik nicht zu verschweigen. Aber er sagte nichts, schnallte sein Gepäck fest und nahm das Luxmeter in die Hand wie ein Stethoskop, das den Puls des Waldes hörbar machte.
Heimkehr durchs Morgengrau
Der Rückweg zum Kanu dauerte nicht lang. Der Nebel über dem Inselmeer war so dicht geworden, dass das Wasser kaum vom Himmel zu unterscheiden war. Kevin ließ das Boot lautlos vom Schilfgürtel abstoßen. Sie paddelten in einer Reihe, jeder Schlag sorgfältig gesetzt, um das fragile Gleichgewicht der stillen See nicht zu stören.
Nach wenigen Minuten verlor sich die Insel als Schatten hinter ihnen. Ein einzelner Schwarm Reiher zog im V‑förmigen Verband über ihre Köpfe und kreischte leise ins Morgenlicht. Lukas vermerkte das Sichtungsdatum, während Mia mit klammgefrorenen Fingern an einem sporenbedeckten Farnwedel zeichnete, der wie ein Souvenir aus einer anderen Dimension neben ihr im Boot lag.
Harald blickte zurück. Dort, wo das Ufer verschwunden war, glaubte er, noch einmal das LED-Flackern zu sehen – drei kurze, drei lange, drei kurze, wie ein winziger Morse‑Triptychon. Er rieb sich die Augen. Der Nebel verschluckte das Licht sofort, ob es Einbildung oder Realität gewesen war, konnte er nicht entscheiden. Aber er spürte das Gewicht des kleinen Sporen-Probenröhrchens in der Brusttasche und wusste, dass die Insel – seine Insel, Bärlappleuchten – das Geheimnis nicht ewig allein tragen würde.
Mit jeder Paddelbewegung wurde das Wasser heller, der Tag klarer, und in der Ferne zeigte sich bereits die Silhouette der namenlosen Hauptinsel mit ihren riesenhaften Buchen und den Windspielen, die im leichten Wind summten. Harald atmete tief durch. Später, dachte er noch einmal, während das Kanu in das bleiche Licht des neuen Tages glitt, später wird das alles Sinn ergeben.