Kapitel 4 – Piratenhügel

Später Vormittag, sechs Tage nach der Ankunft

Eine frische Brise kräuselte das Inselmeer, als die fünf Freunde ihr vertrautes Kanu westwärts steuerten. Vor ihnen ragte inmitten der Wasser­fläche eine karge Kieszunge auf – kaum größer als ein Doppel­klassenzimmer und mit nichts als ein paar Grasbüscheln bewachsen. Von Weitem erinnerte der Hügel an den Rücken eines schlafenden Grauwals. Genau diesen Ort hatte Erik bereits am ersten Tag zu seinem zukünftigen „Piratennest“ erklärt; heute war die Expedition fällig.

Anlanden auf nacktem Kies

Mit einem leisen Schaben lief der Rumpf auf den flachen Ufersaum. Kevin sprang heraus, zog das Boot höher, bis es sicher lag. Die Insel fühlte sich an, als bestünde sie nur aus Sonne, Wind und gleißendem Stein. Erik stieß einen Jubelruf aus, pflanzte sein abgewetztes Halstuch auf einen Treibholzstock und rammte ihn oben auf die Hügelkuppe.

„Hiermit taufe ich dieses Land Corsar!“

Der Name hallte wie ein Pistolenschuss über das Wasser. Harald klatschte kurz, Mia skizzierte erste Umrisse, Lukas notierte Koordinaten. Kevin musterte die Umgebung: kein Schatten, kein Baum, wenig Schutz – doch der Blick rundum war frei.

Bau eines einfachen Unterschlupfs

Statt einer Festung sollten es nur zwei niedrige Hütten werden, kaum mehr als wetterfeste Schlafmulden. Sie sammelten Treibholz, steckten vier Astgabeln in den Kies, spannten darüber das umgedrehte Kanu als Dach der ersten Hütte – gerade hoch genug, dass man darunter hocken konnte. Für eine zweite Schlafstelle häuften sie drift­holz­latten Zelt‑artig gegeneinander, deckten alles mit Seegras und Seggen ab. Harald sorgte dafür, dass das improvisierte Dach einen leichten Überstand bekam, damit Regenwasser ablief.

Mia fädelte Fundstücke – Muschelreste, glatt­geschliffene Glasscherben – auf eine reißfeste Brennnesselfaser und hängte die Kette als Windspiel in den Eingang. »Damit jeder weiß, dass dies ein friedlicher Hafen ist.«

Die Sturmvögel erscheinen

Kaum war das zweite Dach festgezurrt, tauchten zwei Einbäume am Horizont auf. Ihre Bugspitzen durchschnitten das glitzernde Wasser in flachem Winkel: die Sturmvögel. Vorn paddelte Noah, hinten sein Freund Jaro.

Noah winkte, doch seine Stimme klang fordernd: »Wir nutzen diesen Kiesrücken seit drei Tagen als Bootsstation. Euer neuer Name ändert daran nichts.«

Erik stemmte die Hände in die Hüften. »Ein Piratennest braucht genau so einen Ort – kahl, übersichtlich, unknackbar.«

Kevin trat dazwischen. »Die Insel ist groß genug für Kanus und eine Hütte. Lasst uns Regeln finden, statt Grenzen zu ziehen.«

Noah legte an, sprang in den Kies. Sein Blick fiel auf das umgedrehte Kanu‑Dach. »Praktische Idee. Wir könnten unser Boot nachts ebenso lagern – aber wir brauchen Anlege‑Platz auf der Ostseite, wo das Wasser tiefer ist.«

Ein kurzer Austausch folgte: Kies schieben, Boote sichern, Ufer markieren. Die Spannung blieb spürbar, hielt sich aber in Grenzen.

Erster Reibungspunkt

Am frühen Nachmittag zogen Wolken auf; Wind peitschte das Wasser. Die Sturmvögel befestigten ihre Einbäume mit langen Leinen an einer schweren Kies‑Schleife. Doch als Jaro seinen Pflock einschlug, rutschte ein Holzscheit aus Eriks Schlafhütte, das Dach senkte sich und knickte ein. Die Piratenflagge mitsamt Halstuch landete im Kies.

Erik schoss vor: »Ihr habt unsere Hütte zerstört!«

Jaro konterte: »Euer Gerüst stand zu nah an der Böschung. Ich habe nur das Seil gesichert.«

Stimmen wurden lauter. Kevin stellte sich dazwischen, breitete die Arme: »Stopp! Jeder zieht einen Meter zurück.« Lukas holte sein Maßband, legte provisorische Parzellen fest: Schlafzone, Bootszone, neutrale Zone in der Mitte.

Harald, der das Luxmeter zückte, murmelte: »Wenn wir weiter streiten, kostet uns der Wind die ganze Dachkonstruktion.« Er ersetzte das gebrochene Sparrenholz, Mia flocht Seegras dichter zusammen. Nach wenigen Minuten stand die Hütte wieder – niedriger, aber stabiler.

Ein Kompromiss und ein Ritual

Noah blies durch. »Wie nennen wir diese Teilung?«

Kevin grinste. »Das Kiesel‑Abkommen von Corsar. Jeder darf die Insel nutzen, solange er eine Handbreit zwischen seinem Bauwerk und fremdem Material lässt.«

Zur Besiegelung stapelten sie am Inselrücken einen kleinen Cairn aus glitzernden Steinen. Jeder legte einen Kiesel: Erik einen schwarzen Feuerstein, Noah einen Kiesquarz, Mia eine rosa Feldspat-Scholle, Kevin ein kantiges Basaltstück, Harald ein Glas‑Chip, den er tags zuvor am Ufer gefunden hatte. Lukas schrieb auf Birkenrinde: Corsar, 1999 – geteilt, nicht getrennt.

Ein runder Abschluss

Der Wind flaute, Abendsonne tauchte den Kieshügel in orangen Schimmer. Die Sturmvögel kochten Flusskrebssuppe am Spiritusbrenner, während Eriks Gruppe Brennesseltee zog. Gemeinsam saßen sie vor den beiden Hütten; kein Palisadenschatten, keine Zinnen – nur Seggenwipfel, die im Abendlicht flüsterten.

Noah hob die Tasse. »Auf geteilte Inseln und gemeinsame Gewässer!«

Erik prostete mit Wasser nach. »Und auf das Piratennest Corsar – offen für alle, die den Kies respektieren!«

Die kelchartigen Becher klangen hell aneinander. Über ihren Köpfen zogen Fischadlerkreise; das Wasser glitzerte wie flüssiger Stahl. Streit war nicht vergessen, aber fürs Erste geschlichtet.

Harald blieb noch kurz, nachdem die Sturmvögel zu ihren Booten zurückgekehrt waren. Er spähte über das Wasser, las die Reflexe – und sah ganz kurz das vertraute blinkende Signal am entfernten Ufer: drei Kurz, drei Lang. Er sagte nichts, spürte jedoch das Gewicht des Glas‑Chips im Cairn und wusste, dass jedes Geheimnis besser wuchs, wenn man ihm Raum ließ.

Mit der Dämmerung kroch Kühle in den Kies. Die Freunde verzogen sich in die niedrigen Hütten, hörten den Wind durch die Seegrasdächer rauschen. Draußen knackte das kleine Feuer, leise, friedlich. Corsar gehörte ab jetzt allen – und damit begann die nächste Geschichte.