Kapitel 5 – Ziegenkraxler
Später Nachmittag, acht Tage nach der Ankunft
Eine weiche Brise kräuselte das Inselmeer, als das Kanu – ihr „sechstes Crewmitglied“ – westwärts auf die flache Ziegeninsel zuhielt. Von weitem wirkte das Eiland wie ein grün gesprenkeltes Oval im Wasser, durchzogen von schmalen Sandadern, auf denen sich weiße Kleckse bewegten: eine Herde junger Walliser Schwarzhalsziegen, Teil eines Parkexperiments zur naturnahen Landschaftspflege.
Ankunft ohne Empfang
Kein Steg, kein Schild und vor allem niemand, der sie begrüßte – nur das Bimm‑Bimm der Ziegenglöckchen und der Duft von Thymian, den die Tiere durch ihr Scharren freilegten. Kevin sprang ans Ufer, zog das Kanu halb in den Sand und steckte einen schlichten Weidenstock als provisorische „Anlegemarke“ in den Boden.
Erik stieg als Zweiter aus, rutschte prompt auf einer Algenschicht aus, fing sich aber rechtzeitig am Fell eines überraschten Zickleins. Das Tier meckerte empört, schüttelte sich und trabte davon.
»Nichts kaputtmachen«, mahnte Mia, die bereits ihr Skizzenbuch zückte, um die Inselkontur zu zeichnen.
Harald ließ den Blick über das Gelände wandern. Die Fläche maß vielleicht zweihundert mal hundert Meter, genug Raum für Experimente, aber klein genug, dass man in einer Stunde einmal außen herumlaufen konnte. In der Mitte erhob sich ein milder Hügel – kaum vier Meter hoch, doch mit guter Sicht aufs Inselmeer.
Der Parcours‑Plan
»Wir bauen einen Kletterpfad für die Ziegen«, schlug Kevin vor, nachdem sie einen ersten Rundgang absolviert hatten. »Etwas, das ihnen Spaß macht und uns zeigt, ob sie wirklich so trittsicher sind, wie alle immer behaupten.«
Lukas kritzelte grobe Skizzen von schrägen Baumstämmen, Wippbalken und niedrigen Podesten, während Mia Materialinseln markierte: Treibholz nahe der Nordspitze, abgebrochene Weidenäste am Südstrand, Kies im Westen. Erik war inzwischen in ein Fang‑und‑Fang‑Spiel mit drei Zicklein verwickelt, lachte, stolperte, wurde aber kein einziges Mal von den agilen Tieren berührt.
Harald kümmerte sich um die Statik: Er suchte nach Ankerpunkten, trug schwere Rundhölzer, prüfte Tragfähigkeit, während Kevin mit einer Findlingskollektion von Kieselsteinen Markierungen setzte. Es war ein Bild konzentrierter Improvisation – fünf Kinder zwischen zwölf und neun Jahren, die ohne Anleitung einen Mini‑Kletterpark erschufen.
Bis zum frühen Abend stand ein Rundkurs: drei schräge Baumstämme mit quer gelegten Querstäben, ein Wackelbalken aus Treibholz, eine niedrige Sprungplattform und ein schmaler Kieshügel als Abschlussrutsche. Die ersten Zicklein testeten neugierig die Baumstämme, balancierten scheinbar mühelos über den Balken und sprangen dann beherzt über die Kiesrampe. Jubel brandete auf, wann immer ein Tier den Parcours ohne Ausrutscher absolvierte.
Besuch der Sturmvögel
Gerade als die Sonne den Himmel rosé färbte, glitten zwei Einbaumkanus an die Südost‑Bucht – die Sturmvögel, mit Noah an der Spitze. Sie trugen lange Weidenpaddel, die mit farbigen Bändern verziert waren.
»Wir haben euch vom Fluss aus gesehen«, rief Noah, sprang an Land und betrachtete den Ziegenparcours mit ehrlichem Staunen. »Das nenn ich mal Teamwork. Dürfen wir helfen?«
Kevin nickte sofort. In Windeseile banden die Sturmvögel zusätzliche Seile, befestigten eine Pendelröhre aus Binsen und richteten einen kleinen Wasservorhang ein, durch den die Ziegen am Ende laufen konnten – angeblich gut für das Fell.
Noch bevor sie den Probelauf starten konnten, tauchte an der Nordbucht ein schmales Floß aus gebundenen Schilfrohren auf. Fünf schlanke Gestalten stakten es mit improvisierten Gabelpaddeln ans Ufer, zogen das Gefährt halb aus dem Wasser und sprangen barfuß in den Sand: die Fuchsbänder mit Talya an der Spitze.
»Euer Werk sieht solide aus«, bemerkte Talya, nicht ohne Anerkennung. Dann glitt ihr Blick zu den Kanus der Sturmvögel. In der Dämmerung ragten die langen Paddel wie Speere aus den Booten.
Ein gerissener Diebstahl
Die Sonne war kaum untergegangen, als sich alle am Lagerfeuer versammelten – Ziegen, Kinder, Sturmvögel, Fuchsbänder. Gelächter, Vogelschreie, das Knistern von dürrem Weidenholz. Lukas vermerkte die ersten Geschwindigkeitswerte der Ziegen auf dem Parcours, Mia skizzierte das Abendlicht auf dem Fell der Tiere, und Kevin erzählte eine seefahrerische Anekdote, die zu mehr Lachen als Glauben führte.
Harald bemerkte als Erster, dass die langen Weidenpaddel der Sturmvögel fehlten. Er strich sich Ruß von den Fingern. »Hat jemand die Paddel umgelegt?«
Noah sprang auf, rannte zum Ufer – nur um das Boot halb in der Brandung liegen zu sehen. »Weg! Alle drei!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Kiel. Wasser schwappte heraus. »Ohne Paddel kommen wir flussaufwärts nicht zurück.«
Talya verschränkte die Arme, Augenbrauen hochgezogen. »Wir haben sie nicht – wir brauchen keinen Wasserantrieb.« Der Tonfall klang ehrlich, doch ein Fuchsbänder‑Junge grinste, als fände er die Situation unterhaltsam.
»Die Dinger wiegen je drei Kilo«, fauchte Noah. »Kein Windstoß trägt die weg.«
Kevin stellte sich zwischen die beiden Cliquen. »Stopp! Wir suchen gemeinsam. Fackeln raus.«
Die Suche
Kinder verteilten sich sternförmig um die Insel. Kevin führte eine Gruppe am Ufer entlang, Luzern trug das Feuer, Erik suchte zwischen Weidenwurzeln, Talya sprang über treibendes Totholz, Harald sondierte mit der Stirnlampe den Hügel. Schließlich rief Mia: »Hier!«
Sie hatte an der Nordspitze der Insel Spuren im feuchten Sand gefunden: tiefe Furchen, wie sie ein schweres, längliches Objekt im Schlepp hinterlässt. Daneben winzige Fußabdrücke – keine Ziegen, sondern leichte Schuhe.
Harald kniete, fuhr mit der Hand über die Spur. »Sie führen ins Wasser«, stellte er fest. »Jemand hat die Paddel auf ein Floß gelegt und losgelassen, oder selbst ins Wasser gezogen.«
Noah fluchte leise. »Wenn die abtreiben, finden wir die nie wieder.«
Talya flackerten die Augen. »Oder jemand will euch zwingen, euch revanchieren zu lassen, damit wir in Streit geraten.«
Kevin ballte die Hände. »Wer profitiert von sowas?«
»Vielleicht eine dritte Gruppe«, murmelte Lukas. »Haben wir überhaupt alle Cliquen im Park identifiziert?«
Die Nacht schritt voran, während sie den Uferabschnitt absuchten. Erik entdeckte schließlich weit abseits, im Schatten einer treibenden Baumstammgruppe, ein schimmerndes, blaues Band – das Verzierungstuch eines Sturmvogel‑Paddels. Es schwamm, am Griffende angebunden, wie ein Fähnchen.
Kevin und Noah wateten hinein, holten das Paddel heraus. Eine Fuchsbänder‑Knotenvariante sicherte das Band. Talya biss sich auf die Lippe. »Das haben wir nicht gemacht. Aber das Muster könnte jemand nachgeknotet haben.«
Ein Flächenbrand im Kopf, kein Krieg auf der Insel
Die Stimmung am Lagerfeuer war eisig, als sie zurückkehrten. Noah kontrollierte sein Restmaterial; nur dieses eine Paddel hatten sie gefunden. Kevin schlug vor, Ersatz aus Treibholz zu schnitzen, sobald es hell wurde. Talya bestand darauf, dass ihre Gruppe nichts genommen habe, versprach aber, am Morgen von den Bäumen aus nach weiteren Spuren Ausschau zu halten.
Es war Harald, der schließlich das Wort ergriff. »Wir hängen den Rest dieses Abends nicht an Schuldfragen auf. Wenn wir den Parcours heute zerstören, verlieren nicht nur wir, sondern auch die Ziegen.« Er deutete auf die Jungtiere, die inzwischen am Rande des Kreises lagen, zufrieden käuend.
Erik nickte eifrig. »Und wir sind alle gekommen, um Abenteuer und keine Feinde zu finden.«
Noah knirschte, doch er sah ein, dass Streit ihnen die Paddel nicht zurückbrachte. Talya warf ein, man könne den Fluss stromabwärts absuchen; vielleicht spüle die Strömung die Paddel an.
Mia schrieb in ihr Journal: Erster Diebstahlereignis, mögliches Anzeichen für externe Akteurinnen. Auswirkungen auf Gruppendynamik: Vertrauensverlust, aber kein offener Konflikt.*
Sonnenaufgang und ein gemeinsam gelöstes Problem
Die Morgendämmerung färbte den Himmel pfirsichrosa, als Talya von einem Baumklettergang zurückkehrte. Sie hatte den Flussarm im Osten abgescannt und ein schwaches Glitzern entdeckt. Mit Seilknoten sicherten sie drei Kinder aneinander, glitten ins Wasser und stießen bald auf eine flache, von Gras bedeckte Sandbank, wo sich zwei Paddel in Treibgut verfangen hatten. Irgendjemand hatte sie dorthin getragen oder in der Strömung ausgesetzt.
»Vielleicht doch nur ein dummer Scherz«, murmelte Noah, als er sein Eigentum inspizierte. Das dritte Paddel tauchte erst später auf – ein Reiher stand in der Bucht und stakste um den letzten Holzschaft herum, als hätte er es bewacht.
Noch bevor die Sonne vollends stieg, lenkten sie die Energie zurück auf die Ziegen. Die Jungtiere meisterten den Parcours nun wie alte Kletterprofis, ihr Fell glänzte im Morgenschein. Kevin schlug vor, ein offizielles Schild »Ziegenkraxler – Parcours eins« aufzustellen, doch Harald empfahl, nur ein dezentes Symbol zu malen, um das sensible Ökosystem nicht zu sehr einzuladen.
Am Ende blieb vom Diebstahl ein Lehrstück: Misstrauen frisst Zeit, Kooperation baut Brücken. Die Sturmvögel verließen die Insel mit allen Paddeln, die Fuchsbänder seilten sich ab, um nach weiteren Hinweisen auf fremde Besucher zu suchen, und Haralds Gruppe blieb zurück, um den Parcours zu sanden und auszubessern.
Bevor sie das Kanu am Nachmittag gen Osten stießen, ritzte Kevin eine stilisierte Ziege in den größten Findling auf der Hügelkuppe, daneben Erik das Wort »Corsar« – eine Hommage an ihr Piratennest. Lukas protokollierte Standort und GPS‑Rohdaten, Mia zeichnete Abschiedsskizzen, und Harald, der wie immer darauf achtete, dass jeder Stein dort blieb, wo er zuvor gelegen hatte, ließ das Tageslicht über das Ziegensymbol wandern und dachte: Manchmal genügt ein gutes Abenteuer, um Freundschaften zu schmieden – manchmal braucht es ein gestohlenes Paddel.