Kapitel 6 – Weidengewitter

Später Nachmittag, zehn Tage nach der Ankunft

Der Nachmittag begann mit einer flirrenden Hitze, wie man sie Ende Mai selten in Mitteleuropa erlebt. Die Sonne stand gleißend über dem Inselmeer, und der Wasserhorizont dünstete ein flirrendes Silberband aus, das alles Dahinterliegende verschwimmen ließ. Dennoch stach das sechste Crewmitglied – das treue Kanu – unbeirrbar den schmalen Kanal hinauf, der direkt in das verworrene Uferröhricht des Weidenlabyrinths führte. Die fünf Freunde, verstärkt durch drei Sturmvögel und zwei Fuchsbänder, wollten das Anlegen eines provisorischen Rundpfades erkunden – eine Aufgabe, bei der alle Cliquen Kompetenzen einbringen konnten: Wassererfahrung, Kletter­geschick, Kartierungs­routine.

Schon beim Einfahren in den Weidengürtel bemerkten sie, dass die Luftstickigkeit in ein dumpfes Grollen überging. Über den westlichen Hügelketten stapelten sich Ambosswolken, die Ränder bereits von Blitzen durchweht, obwohl am Boden noch schwüle Windstille herrschte. Wetterschwankungen waren sie gewohnt, doch so plötzlich hatte sich keine Front bisher aufgebaut.

Kevin nahm das Steuerruder im Bug nach rechts, ließ das Kanu seitlich an einen morschen Weidenstamm treiben. „Wir sichern die Boote hier“, ordnete er an. Noah, der Wortführer der Sturmvögel, sprang ins knietiefe Wasser, zog den Bug auf einen schlammigen Vorsprung. Talya von den Fuchsbändern befestigte das Seil an einer tief herabhängenden Wurzel. Damit lag das Kanu stabil, während die Sturmvögel ihr Einbaum seitlich versetzten und das Schilfrohr-Floß der Fuchsbänder dahinter verkeilten.

Kaum hatten sie die Ausrüstung auf den Rucksackgurten, verdunkelte sich der Himmel, und die Temperatur fiel schlagartig. Ein unverkennbarer Ozongeruch lag in der Luft – für Lukas ein „praktisches Barometer der Atmosphäre“. Er notierte hektisch Temperatur, Uhrzeit und Windrichtung. Harald klappte seine Karte auf und zeichnete ein kleines Gewitter-Symbol westlich der Inselkontur. „Wir haben vielleicht eine halbe Stunde“, murmelte er.

Erkundung im Schatten der Wolken

Der Weidengürtel bildete ein labyrinthartiges Netzwerk aus aufge­schwemmten, miteinander verfilzten Inseln. Die Wurzelteller der Weiden hatten sich über Jahre ineinander verhakt, sodass enge, bogenförmige Tunnel aus Wurzelwerk entstanden waren. Die Kinder krochen, balancierten und hüpften von Inselstück zu Inselstück. Erik, endlich in seinem Element, bewegte sich wie ein Wiesel durch das Gewirr, immer ein paar Meter voraus. Talya hielt sich meist zwei Weidenbögen links von ihm, um „Notkletterpfosten“ zu markieren, während Noah das dichte Schilf gegen den Strom bog, damit man zurück zum Ausgang fand.

Zeitgefühl ging schnell verloren; das Labyrinth nahm jeden Umgebungs­ton auf, dämpfte ihn durch Blätterwerk und Schlickböden. Das Grollen der Wolkenlinie wurde tiefer, näher, während ein leichter Windhelle­bden die ersten Weidenblätter rascheln ließ.

„Ich schätze noch 800 Meter bis zum Nordostausgang“, flüsterte Harald, der die Karte gegen einen Stamm pressen musste, um Linien nachzuführen. Doch als er den Kompass ansetzte, schlug die Nadel unruhig aus. Magnetit-Einschlüsse im Wurzelgeflecht verschoben offenbar Lokalfelder. Er zeichnete einen Warnkreis auf die Karte: Kompass-Drift.

Plötzlich ein greller Blitz, gefolgt von einem fast sofortigen Donnerschlag. Der Luftdruck fiel. „Wir müssen Rückzug antreten!“, rief Kevin. Erik war längst wieder bei der Gruppe, die Sturmvögel versuchten ihre Boote vom Schlick freizuziehen, Talya suchte nach dem markierten Hauptrückweg – nur: Die Markierungen waren durch den auffrischenden Wind umgeknickt oder verweht.

Die ersten Hindernisse

Ein orkanartiger Böenstoß ließ einen Weidenstamm ächzen; Sekunden später donnerte er quer über den Pfad, blockierte den bisher einzigen durchgehenden Rückweg. Schilfknäuel wirbelten wie Konfetti. Die Sturmvögel, deren Kraft im Wasser unbestritten war, standen ratlos vor dem massiven Stamm. Noah deutete auf die Fuchsbänder: „Ihr seid doch Kletterexperten – oben drüber!“

Talya fauchte: „Wir brauchen zuerst Stabilitäts­prüfungen. Wenn der Stamm nachrutscht, schlitzt er die Seile.“ Doch ein weiterer Blitz verschluckte Details, alle duckten sich instinktiv.

Kevin schob sich in die Mitte. „Neue Regel: Jeder gibt nur Fakten, keine Schuldzuweisungen. Sturmvögel, sichert die Boote. Fuchsbänder, klettert auf stabile Höhe, schaut nach alternativen Tunneln. Harald, Karte. Lukas, Wetterdaten. Erik, bei mir.“ Seine Stimme schnitt klar durch das Rauschen der nun einsetzenden Stark­regenwand.

Während die Sturmvögel in Teamarbeit den Weidenstamm mit Rindenleisten stabilisierten, erklommen Talya und ihre Leute den nächst­liegenden Bogen. Talya entdeckte eine Lücke, winkte herunter. Harald prägte sich Position und Richtung ein, übertrug sie auf die Karte.

Noah zerrte an Kevins Ärmel. „Euer Pfad endete in einer Sackgasse! Ihr habt uns falsch geführt!“ – „Euer Kompass war defekt!“, keilte Talya zurück von oben. Blitze zischten zwischen beiden, diesmal nur metaphorisch.

Kevin hob eine Hand. „Stop! Wir sind keine Gegner. Sturmvögel checken Flößen, Fuchsbänder sichern Höhenroute.“ Der klar definierte Befehlston entwaffnete die Diskussion. Harald, klatschnass, stand neben ihm und zeigte auf die Karte. „Wir sind hier“, sagte er und kreiste einen Punkt ein, „wenn wir diese Höhenroute nehmen, sind es 180 Meter bis zur südöstlichen Außenkante. Von dort ist der Kanal zum Hauptmeer nur 40 Meter breit.“

Talya rief von oben: „Ich sehe zwei überhängende Wurzeltische, jeder ein Meter breit. Das reicht für eine Brücken­provisorium.“

Kevin nickte, blickte zu Noah. „Ihr gebt Schub von unten.“ Noah knirschte mit den Zähnen, doch er verstand die Logik.

Eine Brücke aus Wurzeln

Im prasselnden Regen kletterten zwei Fuchsbänder mit Kevins Seilen auf den zweiten Wurzel­tisch. Die Sturmvögel stützten lose Äste, während Erik Paddelschäfte zwischen den Seitenwurzeln verkeilte. Mias Hände zitterten vor Kälte; dennoch verknotete sie mit Talya das Sicherungs­seil. Lukas hielt mit einer Hand das Regencape über die Gruppe und rief Zwischenwerte der Blitzabstände.

Endlich war ein schmaler Regenlaufsteg frei. Kevin ließ Noah als Ersten hinüber, gefolgt von den Sturmvögeln, dann Mias Team, zuletzt er selbst mit Harald und Erik. Noch bevor der letzte Fuß die improvisierte Brücke verließ, brach der linke Wurzeltisch krachend weg und riss den Stamm in den Kanal – doch alle standen schon am anderen Ufer.

Ein gleißender Blitz durchzuckte den Himmel. Der Donner folgte unmittelbar. „Abstand unter 300 Meter“, rief Lukas. „Keine Metallteile über Schulterhöhe!“ Harald schob das Luxmeter tief in den Rucksack. Die Gruppe duckte sich, lief geduckt weiter zum Anlegeplatz.

Rückkehr zu den Booten – und neue Beschuldigungen

Am Ufer angekommen, erwartete sie eine böse Überraschung: Das Einbaum der Sturmvögel war losgerissen, trieb kieloben im Kanal. Das Schilfrohr-Floß war zwar noch festgeknotet, aber ein Paddel fehlte. Noah starrte Talya an. „Ihr wart zuletzt am Knoten!“ Talya funkelte zurück. „Euer Seil war schlampig gebunden.“

Harald trat dazwischen. „Blitzschlag könnte den Knoten gelockert haben.“ Doch Noah hatte bereits rote Ohren, Talya schnaubte. Kevin blieb hart: „Keine Schuldzuweisungen. Wir sichern das Floß, suchen Ersatzpaddel. Sturmvögel, ihr schwimmt das Einbaum an den Rand und dreht es.“ Noah wollte protestieren, doch Kevins Ton ließ keinen Spielraum.

Es gelang, das Einbaum ans Ufer zu ziehen und mit gemeinsamer Kraft zu wenden. Wasser lief in Strömen aus dem Kiel, aber das Boot blieb intakt. Zwei Sturmvögel pumpten es mit improvisierten Eimern leer, während die Fuchsbänder aus Schilfstämmen ein Nottreibpaddel bastelten.

Aufbruch im Regenvorhang

Das Gewitter wanderte ostwärts, doch der Regen blieb. Schlamm verwandelte den Uferrand in eine rutschige Bruchkante. Kevin ordnete Dreierbesatzungen an: Sturmvögel vorn im Einbaum, Freaks im Kanu, Fuchsbänder und Equipment aufs Floss. Taktvorgabe: Paddelschlag synchron.

Der Rückweg durch die Weidenkanäle dauerte eine knappe Stunde. Blätter und Zweige hingen schwer wie nasse Vorhänge. Zwei Mal blieb das Floß an Wurzelbügeln hängen; jedes Mal kletterte Talya vor, löste die Seile. Vielleicht war es der gemeinsame Druck, vielleicht die Müdigkeit, doch niemand strebte mehr Streit an. Selbst Noah bedankte sich knapp, als Talya ihm das Nottreibpaddel reichte.

Am Ausgangskanal schlug schlagartig Sonnenschein durch eine Wolken­spalte, warf Regenbogenfragmente über das Labyrinth. Kevin sah sich um: Zehn Leute, drei Boote, ein Abenteuer überlebt. „Niemand verloren, nur Materialschaden“, sagte er, was für ihn höchstes Lob war.

Erik reckte sich, schüttelte das Wasser aus den Haaren. „Weidengewitter-Abzeichen!“, jubelte er. „Wer näht’s?“ Mia hob die Hand, grinste.

Nachklang am Lagerfeuer

Im Basislager an der Ostbucht, wo das Hauptfeuer unter einem Not-Dach rauchte, saßen die Cliquen zusammen, tranken heißen Kräutertee aus Emaille­tassen. Das Gewitter war schon fast vergessen, doch der Disput um schuldhafte Fehl­navigation glomm unter der Oberfläche.

Noah raunte Talya zu: „Ihr habt uns falsch geleitet.“ – „Ihr habt unseren Pfad ruiniert.“ Ihre Stimmen waren leise, aber Harald hörte sie. Kevin bemerkte das Flüstern; mit einem deutlichen Seufzer erhob er sich, trat ans Feuer.

„Wir brauchen ein Zeichen, das zeigt, dass kein Pfad ‚einer Clique‘ gehört“, sagte er laut, so dass alle Köpfe hochgingen. „Vorschlag: Wir arbeiten ein Farbcode­system aus. Gelb für sichere Routen, Rot für Sackgassen, Blau für Wasserzugang. Jeder, der markiert, setzt Initialen darunter. Dann wissen wir, wer zuletzt dort war.“

Talya und Noah tauschten Blicke. Schließlich nickten sie. Lukas nahm einen Holzkohlestift, zeichnete drei Quadrate in den Sand, schrieb die Farbcodes daneben. „Ab morgen testen wir das“, beschloss Kevin.

Harald, der seit Minuten schwieg, dachte an das LED-Blitzen auf Bärlappleuchten, an Sensorkabel im Boden und Kompassdrift in Weidenwurzeln. Er fragte sich, ob irgendwo in der Ferne ein Datenlogger jede ihrer Bewegungen verzeichnete. Aber das war eine Sorge für später. Für jetzt hörte er das Knistern des Feuers, fühlte den Dampf des Tees, und das Rauschen des abziehenden Gewitters klang wie der Pulsschlag eines Waldes, der sich einfach schüttelte und weitermachte.

Weidengewitter, dachte er – ein Kapitel, das man in den Windspielen der Insel erzählen würde, wenn wieder einmal Blitze hinter Buchen flackerten und jemand fragte, wer eigentlich die Wege in dieses Labyrinth geschlagen hatte.