Kapitel 7 – Staudammpuls
Früher Abend, zwölf Tage nach der Ankunft
Das Inselmeer war an diesem Abend eine makellose Spiegelfläche. Erst ein sachter Kontraststrich – die Mauer des Hauptstaudamms – zerschnitt das symmetrische Blau–Orange des Himmels. Der Damm markierte hier die Grenze zum Nordpark Aurora – einem bereits eröffneten Areal, das bislang ausschließlich von einigen erwachsenen Parkhütern bewohnt wurde; für Jugendliche aus Mystery war der Wechsel erst mit sechzehn Jahren erlaubt, daher hatte noch kein Kind den Schritt hinüber gewagt. Jenseits der Mauer erstreckten sich Wälder, Fels und der künstliche Stausee; gelegentlich patrouillierten dort die Aurora‑PARKHÜTER, doch Kinder waren (noch) keine zu sehen. Aus der Ferne wirkte das Bauwerk wie ein auf die Erde gelegtes Lineal, doch als Harald und Kevin ihr Kanu auf den nördlichen Uferstreifen lenkten, erhob es sich zu einem wuchtigen, 180 Meter langen Wall aus gestampftem Beton, der den gesamten Park vom dahinterliegenden Stausee trennte. Über die Jahre war Haarschlamm in die Schalungsfugen gewandert; dennoch erschien die Krone wie frisch eingeschalt, ungewöhnlich sauber für ein Bauwerk mitten in der Wildnis.
„Gigaplex nennt ihn einfach ‘Norddamm’. Ziemlich fantasielos“, meinte Kevin, als sie das Boot an eine schmale Schlickbucht zogen. Das Wasser leckte lautlos an den Kielen, dann glitt es zurück.
Harald stieg aus, hielt das Kanu fest, bis Kevin den Packsack herausgehoben hatte. „Fantasienamen vergeben wir, wenn wir das Ding wirklich verstanden haben“, antwortete er. Sein Blick wanderte nach oben. Eine enge Metalltreppe führte in einem steilen Zickzack zum Dammrücken. An ihrem unteren Ende hing ein stark verblasstes Warnschild: Betreten nur für Wartungspersonal.
Kevin las laut. „Wartungspersonal … für wen halten die uns denn?“ Er zwinkerte schelmisch, setzte den Fuß auf die unterste Stufe.
Harald folgte – misstrauisch, doch neugierig. Mit jeder Stufe kühlte die Luft ab. Die Betonoberfläche strahlte gespeicherte Tageswärme ab, während über ihnen bereits die ersten Sterne flimmerten.
Auf der Krone
Oben angekommen, bot sich ein ungewohnter Blick: Nach Süden hin breiteten sich die vielen Inseln des Parks wie dunkle Tupfen in der blaugrau dämmernden Wasserfläche aus. Nach Norden jedoch erstreckte sich ein riesiges, spiegelndes Reservoir – ein künstlicher See, dessen stille Masse sich im kaum merkbaren Abendwind kräuselte.
Kevin öffnete die Arme, als wolle er die Welt umarmen. „Wenn wir hier einen Weitblickposten anlegen, sehen wir jedes Boot, das den Stausee befährt.“
„Hier befährt niemand etwas“, erwiderte Harald trocken. „Der Stausee ist außerhalb der Besucherzone. Unzugänglich.“
Doch Kevins Gedanken galten gerade anderen Dingen. Er spähte den Kronenweg hinunter, eine zwei Meter breite Betonspur mit eingelassenen Stahlrohren als Geländer. Am westlichen Ende ragte ein kleines Wartungshäuschen; östlich verlor sich der Weg hinter Birken, die auf dem landseitigen Böschungswall wuchsen.
Harald zog ein dünnes Notizheft hervor, strich eine Skizze: Dammprofil, Höhe, Länge, Treppenlage. Seit der Begegnung mit dem LED‑Blinken unter dem Bärlapppolster war alles Strukturelle für ihn Teil eines größeren Puzzles.
Dann geschah es. Ein kaum wahrnehmbares Beben vibrierte die Fußsohlen hinauf. Es war nicht stärker als das Summen eines Kühlschrankaggregats – aber in dieser stillen Landschaft wirkte es, als hätte jemand tief im Beton einen gigantischen Herzschlag ausgelöst.
Kevin spürte es ebenfalls. „Hast du das …?“
Harald hob die Hand. „Warte.”
Sie verharrten. Vierzehn Sekunden vergingen, dann kam das Beben erneut: zwei pulsartige Stöße, Pause, ein längerer Nachhall. Beton unter Spannung. Kevin legte die Hand auf die Krone. Harald tat es ihm nach. Das Vibrieren war spürbar, fast wie ein tieftoniger Lautsprecher, der Stille abspielt, aber die Membran schwingt.
„Rhythmisch“, flüsterte Harald. „Nicht zufällig.“
Kevin versuchte zu rechnen. „Zwei Stöße, Pause … vielleicht eine Pumpe? Oder ein Schieber, der Druck ausgleicht.“
Harald nickte gedankenverloren. „Oder ein Daten‑Heartbeat. Wie ein Server, der sich meldet.“
Das Wartungshaus
Sie gingen zum Häuschen, das etwa mittig auf der Krone stand. Die Lamellenjalousie eines Fensters war halb heruntergelassen; durch die Spalte glomm kaltes LED‑Licht. Harald drückte die Klinke. Verschlossen.
Kevin schob seinen Schweizer Klappspaten zwischen Tür und Rahmen – kein Hebel half. Stattdessen bemerkte er ein fingerbreites Bedienfeld neben der Tür, staubbedeckt, aber aktiviert: ein RFID‑Leser, darunter eine winzige Kamera. „Touchless … neue Generation“, murmelte er. „Hier kommt man nur mit Karte rein.“
Harald zog den Rucksack vor, kramte in einem Seitenfach. Er hatte seit Tagen den kleinen Chip im Siliziumträger bei sich. Er hielt ihn vor das Lesefeld, ohne Hoffnung. Ein rotes Licht sprang an, dann wurde es grün. Click. Die Tür verriegelte.
Kevin starrte ihn an. „Willst du mich veralbern?“
„Später“, flüsterte Harald, schob die Tür auf. Ein kühler Luftzug, leicht ölig, schlug ihnen entgegen. Das Häuschen bestand nur aus einem Raum: eine Stahltreppe führte nach unten. An der Rückwand flimmerte ein Kontrollmonitor: grün‑gelbe Linien, Kurven, eine pulsende Anzeige mit der Überschrift Turbine 2 – Impulsabgleich aktiv.
„Turbine …“ Kevin ließ den Blick schweifen – keine Maschinen weit und breit. „Die müssen innerhalb des Dammkörpers liegen.“
Harald scannte die Anzeigen. Die Rhythmen, die sie gespürt hatten, entsprachen exakt den Impuls‑Korrekturen der Turbine, alle fünfzehn Sekunden. Das System hielt vermutlich minimale Wasserstandsschwankungen aus, um plötzliche Lastwechsel im Parknetz zu puffern.
„Ein unterirdisches Hydromodul“, murmelte Harald. „Saft für den ganzen Park.“
Kevin sog die Luft ein. „Und keiner weiß es. Wenn Sturmvögel oder Fuchsbänder erfahren, dass hier Hochleistungstechnik läuft …“
Harald klappte das Notizbuch zu. „Deshalb schweigen wir.“
Kurz nachdem Harald die Anzeigen studiert hatte, grollte in weiter Ferne Donner – ein einzelnes Rollgeräusch, das rasch in der Weite verklang. Kein weiteres Signal, kein Motor, kein Menschenruf folgte. Jenseits des Damms lag Aurora, bewohnt nur von einigen erwachsenen Parkhütern; südlich davon war das Inselmeer spiegelglatt. Die Funkgeräte blieben stumm.
Ein Pakt auf Beton
Sie verließen das Häuschen. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden; ein violetter Nachglanz erhellte die Szene, gerade genug, dass die große Wasserfläche wie flüssiger Stahl glänzte. Aus dem Dammbauch kam wieder der Herzschlag: Dumpf‑dumpf, Pause, dumpf.
Harald lehnte sich ans Geländer, spürte das Vibrieren bis in die Zähne. „Hier steckt der Puls des Parks.“
Kevin stellte sich daneben. „Wenn wir das publik machen, will jeder diese ‚Powerstation‘ sehen. Und dann ist es mit der Ruhe vorbei, mit den Naturpfaden, mit allem.“
Harald nickte. „Wir lassen es eine Weile sacken. Prüfen erst, ob es gefährlich ist. Dann entscheiden wir.“
Sie legten zwei Steine nebeneinander auf die Kronenmauer – ein altes Pfadfinderzeichen für Geheime Stelle, nicht stören. Dann stiegen sie ohne Licht die Treppe hinab, das Kanu wartete wie ein treuer Hund.
Zurück ins Dunkel
Das Inselmeer empfing sie mit tiefer Schwärze, nur das Plätschern unter dem Kiel verriet Bewegung. Während Kevin paddelte, musterte Harald den Chip. Ein fünf Millisekunden‑Blinkmuster ließ das Silizium im Taschenfutter aufleuchten: drei kurze, drei lange, drei kurze – SOS.
Harald schloss die Hand darum. SOS? Oder eine fortlaufende Systemdiagnose?
Keine drei Minuten später erlosch das Blinkmuster. Der Chip wurde dunkel, als wolle er sein Geheimnis neu versiegeln. Harald steckte ihn in die Brusttasche, drückte den Stoff darüber an sein Herz und sagte leise: „Später.“
Kevin hörte das Wort, nickte, schwieg. Vor ihnen lag die Dunkelheit, dahinter die Inselgruppen, auf denen Sturmvögel und Fuchsbänder ums Feuer saßen, völlig ahnungslos, dass sich unter der stillen Wasseroberfläche ein Kraftwerk zusammenzog wie ein Herzmuskel.
Das Kanu glitt lautlos davon. Hinter ihnen blieb der Damm – und sein heimliches Pulsieren ein Versprechen, das die Nacht bewahren würde, bis die Zeit reif war, es zu lüften.