Kapitel 8 – Revierkampf am Fluss
Dämmerung, dreizehn Tage nach der Ankunft
Der Salamanderstrom floss an diesem Abend träge wie geschmolzenes Erz. Die Sonne stand nur noch als kupferner Halbkreis über dem Horizont, doch ihr Widerschein brannte einen letzten Glanz in jeden Kiesel am Ufer, als wollte er das Tageslicht konservieren. Genau diese Stunde hatten die Kinder auserkoren, um das erste offizielle Kanurennen im Park durchzuführen – ein mehr oder minder spontan beschlossenes Prestigeduell zwischen den Sturmvögeln und den Fuchsbändern, das Harald später trocken als „erste Regatta der Jugendexpedition“ in sein Logbuch eintrug.
Kevin – widerwillig als Schiedsrichter akzeptiert – stand im knietiefen Wasser, eine Signalflagge aus rotem Segeltuch in der Linken. Neben ihm ragten drei frisch geschälte Weidenstämme in den Schlamm: Startpfosten, nur notdürftig mit fluoreszierender Schnur umwickelt, damit man sie auch nach Einbruch der Dunkelheit noch sehen konnte. Am gegenüberliegenden Ufer, knapp zweihundert Meter flussaufwärts, war eine ausgediente Boje als Wendepunkt installiert: ein bunt lackierter Kunststoffkörper, den die Sturmvögel tags zuvor geborgen, geflickt und mit einem improvisierten Anker versehen hatten.
„Zwei Runden, stromauf, rechts um die Boje, stromab – wer zuerst seinen Bug über die Startlinie bringt, gewinnt!“
Kevin hob die Flagge über den Kopf. „Und bitte: kein Rammen, kein Paddeldiebstahl, keine gezielten Spritzer ins Gesicht.“
Talya, Anführerin der Fuchsbänder, grinste herausfordernd: „Wenn dein Regelkatalog länger dauert als das Rennen, verlieren wir das letzte Licht.“
Noah von den Sturmvögeln konterte: „Keine Sorge, wir sind schnell genug für Tages- und Nachtlicht.“
Als das Startsignal fiel – ein kräftiger Schlag mit Kevins Paddel auf die Wasseroberfläche – schossen zwei Kanus los: vorn die Sturmvögel in ihrem schnittigen Einbaum, dicht dahinter die Fuchsbänder in einem flachbodigen, aus Schilf verkleideten Holzboot. Beide Boote pflügten die Flussoberfläche, hinterließen zwei V-förmige Kielwasser, die wie aufgemalte Silberpfeile im Abendrot glühten.
Harald und Mia beobachteten vom Ufer. Lukas hantierte mit der Kamera, um das Spektakel zu dokumentieren. Erik sprang in knöcheltiefen Pfützen am Strand entlang und rief den Teams aufmunternde oder provozierende Kommentare zu – je nachdem, wer vorn lag.
Stromauf – das Duell verdichtet sich
Nach zwanzig Metern hatte das Einbaum-Kanu der Sturmvögel einen halben Bootskörper Vorsprung. Ihre Paddelschläge waren rhythmisch wie Uhrwerk: eins–zwei–drei–zurück, das Wasser perlte in glitzernden Fächern von den Blattflächen. Die Fuchsbänder kämpften mit der Strömung; ihr breites Boot besaß mehr Auftrieb, aber auch mehr Kontaktfläche. Talya rief Kommandos – „Tiefe Schläge! Halt den Winkel!“ – doch die Lücke wuchs Zentimeter um Zentimeter.
Harald runzelte die Stirn. „Wenn das so bleibt, ist das Rennen nach der ersten Runde gelaufen.“
Mia schüttelte den Kopf. „Untertreib die Fuchsbänder nicht. Die haben gestern Abend noch neue Stechpaddel geschnitzt – leichter als alles, was ich je gesehen habe.“
Weiter flussaufwärts tauchte die Wendeboje in Sicht. Aufgesetzt hatte sie eine kleine Stroboskop-Lampe, die alle drei Sekunden einmal kurz aufflackerte und dann orange nachglühte. Harald bemerkte, dass das Licht leicht versetzt über die Wasseroberfläche wanderte, als ob die Boje nicht absolut fest verankert wäre. Vielleicht treibt sie leicht… Er verdrängte den Gedanken, denn schon hallte Noahs Schlachtruf übers Wasser.
Sabotage
Die Sturmvögel näherten sich der Boje in einem weiten Bogen, um in einer fließenden Drehung die Innenkurve zu erwischen. Talya dagegen wies ihre Crew an, knapp außen zu passieren und das Heck seitlich einzubremsen, um den Drehpunkt zu verkürzen. Für einen Sekundenbruchteil schien es, als würde die Fuchsbänder-Taktik aufgehen: Ihr Boot rutschte unbemerkt näher an die Marke heran, während die Sturmvögel sich auf die gegenläufige Paddelfolge vorbereiteten.
Plötzlich kippte die Boje. Nicht vollständig, aber sie senkte sich vorn ab, als hätte jemand den Auftrieb gekappt. Ein Ruck ging durch das dünne Ankerseil, Wasser spritzte – dann löste sich der Knotpunkt, und die Boje driftete flussabwärts in die Schlagseite der Sturmvögel. Noah rief etwas, ein Paddel verhakte sich im Sicherheitsring, das schwere Holzkanu verlor augenblicklich Kurs. Der Bug krachte gegen die Boje, das Heck riss nach außen, und zwei der Crewmitglieder verloren das Gleichgewicht.
Zeitgleich änderte die Strömung unter dem breiten Boot der Fuchsbänder ihr Verhalten: Der plötzliche Sog, entstanden durch die Bojenbewegung, saugte den Bug zur Seite. Talya brüllte „Gegenhalten!“, doch das Boot drehte zweimal quer und kenterte. Ein Schwall Fichtenholzschirmchen – provisorische Schwimmhilfen – schoss in die Luft, Paddel flogen wie Mikados hinaus. Zwei Köpfe tauchten sofort wieder auf, röchelnd, aber im nächsten Moment kehrte Talgrau die nächste Schicht Wasser über sie.
Vom Ufer drang Kevins Pfiff wie eine Sirene durch die Dämmerung. „Alle an Land!“, rief er, sprintete bis zur Hüfte in den Strom und stützte sich auf sein Paddel, um den ersten Schwimmer zu greifen. Harald stürmte hinterher, warf ein Wurfseil. Mia hielt die Stirnlampe hoch, jetzt war jeder Rest Tageslicht verschwunden. Lukas ratterte durch die Namensliste, zählte laut: „Noah! Sina! Talya! Lior! Zoe! – Fehlte jemand?“
Keine fünf Minuten später lagen alle Beteiligten keuchend am Kiesufer. Wasser tropfte aus Haaren und Hosenbeinen; der Fluss hatte ihre Stimmen verschluckt, aber in der Stille danach hörte man jedes Schnaufen wie Donnergrollen. Kevin richtete Noahs Kanu auf, zerrte die Boje an Land. Das Seil hing in dünnen, ausgefransten Strähnen – sauber durchtrennt.
Anschuldigungen und Funken
„Sabotage!“, platzte Noah heraus, kaum dass er wieder halbwegs atmen konnte. „Jemand hat den Anker gekappt. Vielleicht sogar während des Rennens.“ Sein Blick glitt auf Talya. In der Stirnlampe spiegelte sich empörtes Flackern.
Talya stemmte die Hände in die Hüfte. „Wir saßen im selben Rennen, Noah. Glaubst du, wir kentern gern neben euch?“
„Ihr wart näher dran. Ihr hättet das wohl nutzen wollen, um die Innenkurve zu kriegen.“
„Und worin liegt mein Vorteil, wenn mein Boot kopfüber im Wasser landet?“
Harald hob die Hand. „Ruhe. Lass mich erst das Seil anschauen.“ Er beugte sich über das ausgefranste Ende, zog eine winzige LED-Lupe aus der Jacke. „Das ist kein glatter Schnitt. Eher gerieben, als hätte man mit einem rauen Gegenstand geschabt, bis die Fasern nachgeben.“
Kevin kniete neben ihn. „Mit einem Paddelblatt vielleicht? Oder einer Bootsspier?“
„Zu fein für Holz. Außerdem, sieht mal: Einige Fasern sind verschmolzen. Hitze war im Spiel.“ Harald roch daran, spürte einen säuerlichen, verbrannten Faden. „Jemand hat wohl ein Stück Metall erhitzt – oder einen glühenden Draht – und das Seil angesengt.“
Stille. Dann platzte Lior – zweites Ruder der Fuchsbänder – heraus: „Das klingt sehr nach euren Werkzeugkünsten, Sturmvögel! Ihr habt schließlich die Boje gestern angebunden. Was, wenn ihr heimlich ein dünneres Seil benutzt habt, um uns in die Falle zu locken?“
Noah konterte: „Wir nutzen keine Pyrotechnik, um Seile durchzubrennen!“
Kevin hob die Flagge, diesmal als Mahnung. „Genug! Wir klären das nicht, wenn jeder jedem alles unterstellt. Erste Frage: Gibt es jemanden, der vor dem Rennen allein in der Nähe der Boje war?“
Niemand meldete sich.
Haralds Fundstück
Während die Gruppen sich weiter beschnauften, watete Harald erneut in den Fluss. Eine Kiesbank wenige Meter stromaufwärts hatte beim Unfall einen großen Teil der Boje aufgefangen. Zwischen den gerundeten Steinen lag ein dunkles, längliches Objekt. Er hob es auf: ein Metallrohr, etwa so dick wie sein kleiner Finger, an beiden Enden leicht nach innen gebogen – wie Handgriffe. Eine Seite war schwarz verfärbt, roch nach heißem Harz.
Er kehrte ans Ufer zurück, zeigte Kevin das Fundstück. „Daran könnte man ein Seil auf Spannung erhitzen. Es ist hohl, vielleicht war eine Lunte oder glühende Kohle drin.“
Kevin drehte das Rohr zwischen den Fingern. „Das stammt weder von eurem noch von unserem Boot“, sagte er laut, sodass alle es hören konnten. „Wer kennt dieses Teil?“
Alle schüttelten den Kopf – bis Mia vorsichtig bemerkte: „Könnte es aus dem Wartungshäuschen an der Schilfbucht stammen? Bei unserem letzten Besuch dort stand ein Kasten mit alten Kernbohrern, einige davon sahen ähnlich aus.“
Harald dachte an das LED-Signal in Bärlappleuchten, an den Chip unter dem Steinhaufen. Irgendjemand spielt ein doppeltes Spiel, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Brennrohr, das keiner vermisste, eine Boje, an der Lichtmodifikationen möglich waren – das passte nicht ins Bild simpler Cliquenstreitigkeiten.
Er steckte die Metallröhre ein. „Ich untersuche es später.“
Notfall‑Konsens
Kevin trat einen Schritt zurück, ließ seinen Blick über die sichtlich erschöpften, tropfnassen Kids schweifen. „Egal, wer das war – heute Abend sichern wir alle Bojen und Seile. Ab jetzt keine Alleingänge zum Strom ohne Begleitung. Jede Clique meldet Fundstücke oder verdächtige Beobachtungen sofort dem anderen Team. Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, hilft das nur dem Saboteur.“
Talya und Noah tauschten einen müden Blick, nickten schließlich. „Friedenspflicht bis wir wissen, was los ist“, murmelte Talya. Noah streckte die Hand hin; widerstrebend schlug Talya ein.
Lukas vermerkte: Interims-Kooperationsabkommen, geschlossen am 13. Tag, 21:47 Uhr.
Heimweg
Keiner hatte Lust auf ein zweites Rennen. Sie brachten die Boje ans Ufer, befestigten eine Notlaterne daran und schoben beide Boote gemeinsam aufs Wasser. Kevin lotste den Konvoi stromabwärts, Erik saß im Bug und leuchtete voraus, falls Treibholz aufragte. Der Fluss hatte seinen glühenden Kupferglanz verloren, war nun tintenschwarz. Nur das Scheinwerferkegelchen über der Bugspitze malte einen schmalen Tunnel aus Glitzernden Planktonpünktchen.
Harald saß hinten im Kanu, das Brennrohr in der Jacke, und überlegte, wie er den Vorfall in Zusammenhang mit dem LED‑Signal oder dem Staudammpuls bringen konnte. Jemand testet uns, dachte er. Oder testet das System des Parks. Und wir rennen blind hinein.
Am Ufer angelangt, trennten sich die Wege. Sturmvögel schlugen ihr Lager am Kieshang auf, Fuchsbänder an der Böschung oberhalb. Kevins Gruppe stapfte schweigend zum Basislager Nullpunkt. Über ihnen spannten sich Sterne, frisch gespült vom Abendrot. Harald hörte den Fluss hinter sich murmeln, als erzählte er eine Geschichte, die niemand von ihnen ganz verstand.
Morgen würden sie die Bojen neu verankern, vielleicht sogar eine provisorische Brückenkamera installieren. Doch für den Augenblick blieb nur das Pochen des Pulsschlags, die Kälte getrockneten Flusswassers auf der Haut und die Erinnerung an ein Rennen, das keines war – sondern ein Warnsignal.