Kapitel 9 – Eriks Verschwinden

Nacht – vierzehn Tage nach der Ankunft

Der Vollmond thronte wie eine gesprungene Bronze­scheibe über dem Farnschleier, jener feuchten Senke südlich des Salamanderstroms, in der selbst tagsüber kaum Licht den Boden berührt. Heute Nacht jedoch glitzerte jeder Tautropfen auf Bärlapp‑ und Adlerfarn wie ein Splitter aus geschmolzenem Silber. Nebelschwaden krochen zwischen den Wedeln, brachen das Mondlicht in flirrende Schleier – schön und unheimlich zugleich.

Harald zog den Reißverschluss seiner Windjacke bis unters Kinn. Er, Kevin, Mia, Lukas, Noah (mit drei Sturmvögeln) und Talya (mit drei Fuchsbändern) standen am Rand des Farnmeers, Stirnlampen schmal auf Rotfilter gestellt. Die Regeln der nächtlichen Schnitzeljagd hatten sie am Nachmittag vereinbart: Jede Gruppe musste fluoreszierende Markierstäbe einsammeln, die irgendjemand vor Wochen in den Boden gesteckt hatte – keiner wusste genau, wozu sie dienten. Wer die meisten Stäbe fand, durfte den Inselsee am Morgen für sich beanspruchen – ein harmloser Wettstreit, dachten sie.

Start in den Farnwald

Ein Pfiff zerschnitt die Stille. Die Kinder stoben auseinander, verschwanden in Korridoren aus feuchten Wedeln. Harald überließ Kevin das Kommando der „Basisstation“: eine kleine Lichtung, auf der ein zusammengerolltes Notfall‑Biwi als Sammelpunkt diente. Während Mia Kartenskizzen anfertigte, schritt Harald Hang um Hang ab und steckte Flaggen in den Boden, damit er sich nicht verirrte.

Erik, jüngster der Gruppe, durfte offiziell nur in Sichtweite seines Bruders bleiben. Doch schon nach wenigen Minuten brach sein leiser Ruf durch das Farnmeer: »Ich habe einen Leuchtstab!« – dann nichts mehr. Harald hielt inne, lauschte. Nur das Mondrauschen der Blätter.

Der Moment des Verschwindens

Harald aktivierte für einen Sekundenbruchteil seine weiße Stirnlampe und rief Eriks Namen. Echo, sonst nichts. Über Funk meldete Noah, er habe eine Stabmarkierung bei Position West‑Gamma gefunden. Talya konterte, sie habe zwei Stäbe südöstlich von der Basis. Bisher war alles Routine.

Doch dann: ein dumpfer Aufprall, ein Rascheln, das abrupt endete. Haralds Nackenhaare stellten sich auf. Er sprintete los, folgte einer Schneise zerdrückter Wedel, bis er zu einem kleinen Graben kam. Dort lag ein abgerissener Leuchtstab – zersplittertes Acryl, Phosphorpulver glomm noch. Von Erik keine Spur.

Alarmstufe Farn

Harald kehrte zur Basis zurück, Herzschlag im Hals. »Erik ist weg!« Kevin erstarrte, dann erteilte er über Walkie‑Talkie Sammelbefehl. Unter dem kalten Mond erschien zuerst Noahs Trupp, kurz darauf Talya mit zwei ihrer Leute; einer fehlte noch im Labyrinth.

»Hat einer von euch Erik gesehen?« fragte Kevin. Noah schüttelte heftig den Kopf. Talya presste die Lippen aufeinander: »Wir haben unsere eigenen Probleme, Lukas ist bei uns verloren gegangen.«

Ein Schlagabtausch entbrannte. Noah warf den Fuchsbändern vor, falsche Richtungsrufe abgesetzt und damit Erik in den Graben gelockt zu haben. Talya konterte, die Sturmvögel hätten Leuchtstäbe umgesetzt, um bessere Punktechancen zu haben. Worte wurden lauter, Hände ballten sich.

Harald trat dazwischen, hob beide Arme. »Stopp. Streiten bringt niemanden zurück. Wir teilen das Gebiet in Sektoren und suchen systematisch.« Kevins Autorität reichte gerade aus, um die Kontrahenten zur Kooperation zu zwingen.

Rasterfandung im Farnmeer

Die Gruppen einigten sich auf ein Schachbrett: F‑Bänder suchten die Südhälfte, Sturmvögel den Westen, Haralds Kernteam den Nordostsektor. Jeder Sektor bekam einen Buchstaben, jeder Sucher eine Nummer, Rohfrequenz auf Funkkanal 3.

Harald bewegte sich vorsichtig zwischen meterhohen Wedeln. Das Mondlicht reichte kaum, doch das diffuse Leuchten von Phosphorsporen wies ihm den Weg. Immer wieder rief er: »Erik!« Sein Puls hämmerte. Nicht noch mal verlaufen, dachte er. Konzentrier dich.

Plötzlich knackte es im Unterholz. Ein Ast splitterte, dann Stille. Harald richtete die Stirnlampe aus, nur Rotlicht. Eine Silhouette huschte davon. Zunächst dachte er an Noah oder Talya – bis ihm auffiel, dass sie sich laut Protokoll im Westsektor befanden. Jemand anderes? Ein kühler Schauer kroch ihm den Rücken hinab.

Fundstück unter dem Mond

Nach zwanzig endlosen Minuten meldete Mia über Funk: »Habe Eriks Mütze bei Koordinate N‑4. Keine Fußspuren.« Das Areal war sumpfig; jeder Schritt hinterließ tiefe Abdrücke. Harald erreichte Mia, nahm die Mütze, roch daran – Farn und kalter Schweiß. Kein Blut. Ein schwacher Trost.

Kevin stieß einen langen Pfiff aus – das Signal für Sammelpunkt. Als Harald mit Mia dort eintraf, sah er, dass auch Talya fehlte. Noah schäumte: »Erst Erik, dann Talya! Vielleicht spielt ihr Fuchsband‑Leute ein Doppelspiel und versteckt beide!« Seinen Worten folgte drohendes Schweigen.

Harald stellte sich neben Kevin. »Niemand von uns hat Talya verschleppt. Vielleicht hat sie Erik gefunden und bringt ihn zurück.« Doch Zweifel nagten.

Fremdes Licht im Dickicht

Ein bläulicher Schein flackerte plötzlich südöstlich auf. Noah stürmte los, dicht gefolgt von seinen Leuten. Harald und Kevin tauschten einen Blick, folgten im Laufschritt. Der Schein flackerte zwischen den Farnwedeln, vibrierte, als stamme er von einem Monitor.

Sie erreichten eine kleine Senke. Im Moos lag eine rechteckige Service‑Konsole, vielleicht 30 Zentimeter hoch, aus der ein holografischer Statusbalken pulsierte – genau das Cyan, das Harald schon auf der Bärlappinsel als LED‑Blitzen gesehen hatte. Daneben hockte Talya, schlammverschmiert, das Funkgerät an die Brust gepresst.

»Ich habe Erik!«, rief sie, kaum dass sie die anderen bemerkte. »Er steckt in einer Kluft, zwei Höhenmeter tiefer, aber lebt. Ich brauchte Hilfe und habe diese Konsole aktiviert; sie zeigt topografische Daten!«

Noah seufzte vor Erleichterung, Verwunderung verwandelte sich in Tatendrang. Gemeinsam folgten sie der holografischen Karte. Eine kleine rote Markierung zeigte Vertikale –2 m. Talya führte sie zu einer schmalen Erdspalte, die unter Farnwurzeln klaffte. Dort unten kauerte Erik, unverletzt, aber sichtlich geschockt.

Rettung aus der Erdkluft

Unter Kevins Anleitung knoteten sie Seile aus Jackenärmeln, ließen eine improvisierte Schlinge hinab. Harald sprach beruhigend auf seinen Bruder ein, während Mia von oben Licht spendete. Nach ein paar bangen Minuten zog die Gruppe Erik hoch, zitternd, aber lächelnd.

»Ich wollte Abkürzen, bin ausgerutscht«, stammelte er. »Dann habe ich irgendein leuchtendes Rohr gesehen und bin tiefer reingerutscht.« Harald runzelte die Stirn – Rohr? Leitung? Die Konsole blinkte im genau gleichen Cyan.

Die Schuldfrage

Zurück auf der Lichtung entlud sich die Spannung. Noah entschuldigte sich bei Talya, Talya nickte steif. Kevin, die Stimme müde, erklärte das Rennen für beendet. »Wir heben die Konkurrenz auf, bis wir wissen, wie wir sicher navigieren.« Niemand widersprach.

Harald nahm die Konsole unter die Lupe. Ein Logo prangte darauf: GigaPlex Geo‑Node V3. Er verstaute das Gerät provisorisch unter dem Biwi. Später, sagte er sich. Alles zu seiner Zeit.

Epilog im ersten Licht

Als der Morgen graute, ergoss sich ein milchiger Dunst über das Farnmeer. Die Wedel lagen reglos, verdroschen von Tau. Harald saß am Rand der Lichtung, Erik schlief an seine Schulter gelehnt. Kevin bewachte schweigend ein kleines Spirituslicht, das gegen die Kälte brannte. In der Ferne sang ein Zwergtaucher.

Mia skizzierte die Szene, während Lukas mit halb geschlossenen Augen Protokoll diktierte: »00:17 Uhr, Fund der Geo‑Node‑Konsole; 00:32 Uhr Rettung Erik; 03:04 Uhr Nebelaufzug aus Nordost«.

Die Cliquen hatten sich nichts zu sagen – zu frisch der Schreck, zu groß die Erschöpfung. Doch als Harald kurz aufblickte, traf sein Blick den von Noah. Ein kurzes Nicken – Frieden, vorerst.

Über dem Salamanderstrom färbte die steigende Sonne den Nebel gold. Der Farnschleier schlummerte in leiser Vorahnung künftiger Rätsel. Und irgendwo unter dem Moos pulsierte weiter das kalte Cyan eines Systems, das nur wenige zu erkennen wussten.