Kapitel 5: Selinas Entschlossenheit

Die Nacht hatte sich über Aurora gesenkt, doch in Selinas Gedanken herrschte keine Ruhe. Sie saß alleine am Rand des kleinen Sees, der ihre Lieblingsstelle war, wenn sie nachdenken wollte. Der Mond spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, und das leise Plätschern der Wellen war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Stein, den sie immer wieder zwischen ihren Fingern drehte. Die kühle Nachtluft ließ sie frösteln, doch sie zog die Wärme ihres Mantels enger um sich und blieb reglos sitzen. Um sie herum raschelten leise die Bäume, ein sanfter Wind spielte mit den Blättern.

Die Entscheidung über die Cybercities hatte eine Flut von Erinnerungen in Selina geweckt. Sie dachte an den Tag zurück, der alles verändert hatte – den Tag, an dem ihr kleiner Bruder aus dem Fenster gefallen war. Sie erinnerte sich daran, wie sie damals mit einem Freund telefoniert hatte, abgelenkt von ihrem Gelächter, während ihr Bruder neugierig auf den Fensterrahmen geklettert war. Sie hatte nicht gehört, wie er nach ihr gerufen hatte. Erst als Lizzy, ihre jüngere Schwester, laut schrie, war sie hinausgelaufen und hatte ihn gefunden – reglos, mit Lizzy neben sich, die nicht wusste, was sie tun sollte. Der Schock hatte Selina gelähmt, und die Schuldgefühle hatten sie fast überwältigt.

Diese Erinnerungen hatten sie jahrelang verfolgt, doch hier, am See, fühlte sie etwas anderes. Eine klare, entschlossene Energie pulsierte in ihr. Die Cybercities waren nicht nur eine technische Innovation, sie waren ein Neuanfang – eine Möglichkeit, alles hinter sich zu lassen, was sie in der Vergangenheit zurückgehalten hatte. Sie wollte nicht mehr stehenbleiben. Nie wieder.

Harald trat leise aus dem Schatten der Bäume und setzte sich neben sie. Eine Weile sagte er nichts, sondern schaute nur hinaus auf den See. Der Mond warf sein silbriges Licht auf das Wasser, und das Plätschern der Wellen begleitete die Stille. Schließlich brach er das Schweigen. „Du bist in Gedanken.“

Selina nickte, ohne ihn anzusehen. „Ich denke darüber nach, warum ich hier bin. Warum ich überhaupt noch hier bin.“

Harald runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

„Die Cybercities,“ begann Selina und warf den Stein ins Wasser, wo er kleine Wellen zog. „Für mich sind sie mehr als nur ein Experiment. Sie sind meine Chance, etwas Neues zu schaffen, etwas, das Bestand hat. Etwas, das zeigt, dass ich nicht mehr dieselbe bin wie damals.“

„Du redest von deinem Bruder,“ sagte Harald leise, ohne sie anzusehen.

Selina zuckte zusammen, doch sie nickte. „Es ist lange her, aber es fühlt sich immer noch so an, als wäre es gestern passiert. Ich habe damals geschworen, nie wieder stehenzubleiben, nie wieder in der Vergangenheit zu verharren. Die Cybercities – sie sind die Zukunft. Und ich werde nicht zögern.“

Harald sah sie an, sein Blick ernst, aber warm. „Das ist ein starkes Motiv, Selina. Aber es ist auch wichtig, dass du das nicht alleine trägst. Wir alle haben unsere Gründe, warum wir zögern oder weitermachen. Es ist okay, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, aber du solltest sicherstellen, dass du auch mit dir selbst im Reinen bist.“

Sie drehte den Kopf zu ihm, ihre blauen Haarsträhnen leuchteten im Mondlicht. „Ich bin mit mir im Reinen, Harald. Zum ersten Mal seit langer Zeit weiß ich genau, was ich will. Ich will nach vorne sehen. Ich will etwas erschaffen, das größer ist als ich selbst.“

Harald nickte langsam. „Dann zeig uns, wie das geht. Deine Entschlossenheit könnte das sein, was den anderen die Kraft gibt, ihre Zweifel zu überwinden.“

Selina lächelte schwach. „Das werde ich. Aber es wird nicht leicht sein, die anderen zu überzeugen.“

„Nein,“ stimmte Harald zu. „Aber wenn jemand das schaffen kann, dann du.“

Sie standen gemeinsam auf, und Selina spürte, wie sich ein Hauch von Zuversicht in ihr breit machte. Während sie zurück zum Lager gingen, unterbrach Harald die Stille. „Weißt du, was mir an den Cybercities gefällt?“

„Was?“ fragte Selina, überrascht von der Frage.

„Die Möglichkeit, neu zu beginnen. Kein Ballast aus der Vergangenheit, keine vorgezeichneten Wege. Jeder von uns kann dort definieren, wer er wirklich sein will.“

Selina nickte langsam. „Genau das. Und ich werde alles tun, um zu zeigen, dass es möglich ist.“

Als sie das Lager erreichten, sah Selina die anderen Parkhüter. Sie waren müde, manche skeptisch, manche verloren in Gedanken. Doch sie wusste, dass sie sie überzeugen konnte – nicht nur mit Worten, sondern mit Taten. Die Cybercities waren nicht nur eine Idee. Sie waren ihre Zukunft – und sie würde dafür kämpfen.

Während die Nacht fortschritt, setzte Selina sich ans Feuer zu den anderen. Die Gespräche klangen leise, aber immer wieder schielte jemand zu ihr. Es war klar, dass sie alle wussten, dass Selina etwas in sich trug, das sie alle inspirieren könnte. Selina spürte die Verantwortung und auch den Druck, doch sie nahm ihn an. Ihr Blick schweifte über die Sterne, und sie lächelte. Die Zukunft war greifbar – und sie war bereit, sie zu gestalten.